Das größte Hindernis auf dem Weg in die Zukunft die ich meine, ist die Unkenntnis des Menschen von sich selbst. Ich rede jetzt nicht davon, dass, metaphorisch gesprochen, jeder Mensch eine maximal komplizierte, einzelangefertigte Sondermaschine ist, die mit fortschrittlichster Soft- und Hardware ausgestattet leider nur ohne Handbuch ausgeliefert wird. Sondern dass man verstehen muss: Es geht um das System. DAS (fahrende oder fliegende) Auto gibt es nicht. Es gibt nur DIE (fahrenden oder fliegenden) Autos. Analog gilt: DEN Menschen gibt es nicht. Nur DIE Menschen. Der Erfolg kommt durch die Mehrzahl und in Bezug zueinander. Was vielleicht auch der Grund ist, warum ein Handbuch überflüssig ist. Der Einzelne ist einfach nicht wichtig genug. Es reicht aus, die Struktur zu kennen, um das System am Laufen zu halten.
Folglich muss jeder Versuch, bleiben wir bei diesem Beispiel, das Auto im Einzelnen zu verbessern, in eine Stagnation führen: Ganz egal wie lange die Ingenieure am Diesel herumbasteln, es wird immer nur ein Dieselauto bleiben. Einen erweiterten Begriff vom Auto der Zukunft wird man so nicht erhalten. Das war ja schon bei der Dampfmaschine so. Und auch beim Pferd. Es braucht Impulse, um das SYSTEM zu ändern. Innerhalb dieses Systems dann mag es sinnvoll sein, die Einzelexemplare oder Serien zu optimieren. Doch die Optimierung bringt dann keinen echten Fortschritt mehr.
Entsprechend sind alle Versuche, die beim Menschen am Individuum ansetzen, auch zum Scheitern verurteilt. Weil sie dem Grundirrtum aufsitzen: Wenn sich alle nur richtig verhalten würden, dann herrschte das Paradies auf Erden. Die Empirie der Jahrtausende hat gezeigt, dass genau das nicht funktioniert. Weder haben moralische Ermahnungen, ja sogar Folter und Strafe individuelles Fehlverhalten ausrotten können, noch ist der neuzeitliche Versuch der Selbstoptimierung so weit geglückt, als man sagen könnte: So stelle ich mir eine fortgeschrittene Zukunft vor. Denn kaum rückt der Traum von gottmächtiger Technik für jedermann in Reichweite, rücken auch schon wieder die Moralisten an, die die Auswüchse dieses Handelns aus mehr oder minder einsichtig erscheinenden Gründen eindämmen wollen: Gesundheitsfanatiker, Sportfetischisten, Tierschützer, Umweltschützer, Genderisten, Antiglobalisten, Esoteriker, Mullahs, Sozialisten meinetwegen. Sie alle jedoch verlangen, wir mögen uns bescheiden auf ein bestimmtes Normverhalten. Und das vor allem individuell. Stuttgarter Kehrwoche global sozusagen.
Selbst im vielgescholtenen Kommunismus war das so: Bestraft wurde für das Abweichen von der Norm nicht das System, oder wenigstens ein Kollektiv, sondern immer das Individuum. Dass es manchmal oder oft die Falschen traf, tut der Sache keinen Abbruch. Das gehört eben dazu und ist ja auch bei der Inquisition oder jeder anderen moralisierenden Gesellschaftsform so. Ja selbst in Gesellschaften, die tatsächlich systemisch bestraften, führte es zu nichts: Ganze Urwaldvölker sind ausgestorben, weil sie zu viele Menschenopfer darbrachten – ohne zu erkennen, dass die Quelle ihres Darbens, möglicherweise eine Dürre, völlig andere Ursachen hatte, als die vermeintlichen. Der hilfloseste Versuch einer Selbstoptimierung überhaupt, sich oder andere einem Gott zu opfern. In verwandelter Form könnte man in diese Kategorie auch die Massenverhaftungen der Stalinzeit und – weniger verwandelt – die dem Nazirassenwahn geschuldeten Massenmorde einsortieren.
Von hier aus ist es nicht mehr weit, festzustellen: Der Zweck von Fremd- oder Selbstverbesserung des Individuums ist, eine Systemänderung zu verhindern. Es wird dadurch immer weniger denkbar, dass man auch anders handeln könnte. Oder dass es überhaupt einen Systemzwang gibt, denn er versteckt sich ja in der ewigen, von schlechtem Gewissen und Angst begleiteten Gefühl der Unvollkommenheit des Einzelnen, bzw. hinter der Wut auf die anderen.
Besonders unrühmlich tun sich da gerade jene Wissenschaften hervor, die am meisten vom Menschen zu wissen behaupten: Psychologie, Neurologie und die Sozialwissenschaften. Die beiden ersten betrachten im Schwerpunkt immer die „Monade“, und ziehen meist gar nicht in Betracht, dass eine Individualstörung womöglich das Symptom für eine Systemstörung auf Megastrukturebene ist. Das pragmatische Prinzip hierbei lautet: Was wir nicht reparieren können, stellen wir auf den Pannenstreifen und schalten auf Leerlauf, wo es keinen Schaden anrichten kann.
Anders die Sozialwissenschaftler. Die sind noch am ehesten am Puls der Problematik. Aber auch hier wird man früher oder später auf verkappte Imperative an die Moral des Einzelnen stoßen. Besonders gutes Beispiel: Spätestens seit Marshall McLuhan seine zunächst spannend formulierte These »Das Medium ist die Message« in eine (angeblich auf einen Druckfehler zurückgehende, aber dann absichtlich beibehaltene) Variante abänderte, nämlich in »Das Medium ist die Massage«, wurde klar: Der katholische McLuhan sorgte sich weitaus weniger um die Medien, als um die Moral. Genauer den Medienabusus. Und nur ein Tauber konnte seinerzeit die „Message“ nicht verstehen: Schalt die verdammte Glotze doch mal aus. Was nichts Anderes ist, als eine moralgetränkte Verhaltensanweisung an alle gerecht denkenden der Welt, mit dem Ziel ein wohl eher fantasiertes, besseres Vorläufersystem zu restituieren. McLuhan wußte wahrscheinlich wovon er sprach: Im Gegensatz zum Protestanten liest ja ein guter Katholik, der nicht Theologe oder Pfarrer ist, auch keine Bibel, sondern lässt sich Auszüge davon in der Kirche vortragen. Das Medium ist die Massage. Mit dem Ziel der Normierung von systemkonformen Denkinhalten. Wenigstens in diesem Punkt voll ins Schwarze.
Wo liegt der Ausweg?
Auf der Straße. Und bei den Tankstellen. Und den Werkstätten. Und den Garagen. Und den Fahrschulen. So ist es beim Auto. Und so war es bei der Eisenbahn: Nicht auf die Lokomotive kam es an, sondern auf die Schienen und den Bahnhof! [siehe auch: »Spiel mir das Lied vom Tod«]. Beim Pferd waren es auch erst ein existentes Straßensystem und Relaisstationen, die eine halbwegs alltagstaugliche Reise ermöglichten.
Interessant daran: Es war ja dann auch selten ein Problem, ein bestehendes System mit einer gänzlich neuen Technik zu erhöhen, also einem Handkarren ein Pferd voranzustellen, einer Pferdekutsche einen Benzin- oder sogar Elektromotor einzubauen, eine handgezogene Lore auf Dampf und eine Dampflok auf Diesel umzustellen. Immer wann war das kein Problem? Wenn die Infrastruktur vorhanden war. Und wenn es einen Anlass gab. Es muss eine Motivation geben und eine Chance, dieser zu folgen.
Nachdem wir also wissen, dass die Amelioration des Individuums nutzlos ist, und es auf die Infrastruktur ankommt, lautet die große Frage also: Was ist das entscheidende, leider aber wohl noch nicht analysierte Systemnetz des Menschen, auf dem er sich aktuell vergeblich zu verbessern sucht, und was könnte das Motiv sein, eine hoffentlich bestehende Chance zu nutzen, den Sprung in die Superzivilisation zu wagen?
Mit einer doppelten Ration Verpflegung für die Rudersklaven, damit der Kapitän Wasserski fahren kann, ist es jedenfalls nicht getan.