Aus aktuellem Anlass hier mal ein Beitrag zum Thema Meinungsfreiheit.
Landläufig herrscht ja die Ansicht, Meinungsfreiheit bestünde darin, frei von der Leber weg sagen zu dürfen, was einem aus der Seele spricht. Schwachsinn. Meinungsfreiheit besteht für mich in der Freiheit, meine Meinung ändern zu dürfen. Ich lehne es einfach ab, von anderen Leuten auf jeden Unsinn, den ich früher einmal geäußert habe, bis in alle Ewigkeit abonniert zu werden. Ich habe ein Recht auf Irrtum, und ich habe ein Recht auf bessere Einsicht. Denn wäre es nicht so, dann müsste es ja jeder halbwegs vernünftige Mensch vorziehen, gar nichts mehr zu sagen.
Umgekehrt verstehe ich die Leute auch nicht, die auf Gedeih und Verderb ihre einmal geäußerten Annahmen oder Überzeugungen verteidigen, um ihr Gesicht zu wahren. Ich vermute auch, dass genau hier der Fehler liegt: Im Glauben, dass Menschen eine einheitliche Meinungsstruktur, eine Persönlichkeit – nennen wir es einen Charakter – haben müssten, versuchen sie genau einen solchen Charakter darzustellen. Tatsächlich aber ist das dann nichts anderes als eine Projektion der anderen.
Warum Menschen von anderen Menschen verlangen, „Verantwortung“ zu übernehmen für ihre alten Aussagen, ist ihr eigenes Bedürfnis, sich in einem Menschen nicht geirrt zu haben. Also: Schritt 1 ist, ich mache mir ein Bild von jemandem. Schritt 2: Der andere ändert plötzlich seine Meinung. Schritt 3: Der andere entspricht meiner Meinung nicht mehr und ich werde sauer oder bekomme Angst davor, die Orientierung zu verlieren. Schritt 4: Ich beruhige mich damit, mein Gegenüber wieder in mein altes Bild zu zwingen, indem ich ihn beschuldige, genau der zu sein, von dem ich angenommen hatte, dass er sei. Schritt 5: In der Folge fühlt sich der andere genötigt, entweder gar nichts mehr zu sagen, oder vorauseilend eben darum zu kämpfen, nicht ein neuer zu werden, sondern zu bleiben, wie er in den Augen der anderen sein soll. Er beharrt also auf seiner alten, womöglich längst abgelegten Meinung, oder kommt gar nicht erst zu einer neuen, weil er sonst als charakterlos dastünde.
Leute, da mache ich nicht mit. Ich bin nicht, was ich meine. Und alles was ich hier geschrieben habe, sagt vielleicht schon morgen gerade mal so viel über mich, wie das Zeug, das ich im Klo runterspüle.
UPDATE: Ein Freund schickt mir gerade diese Replik:
Kurz gesagt: Wir hassen es, wenn andere ihre Meinung ändern, weil wir selbst unsere Meinung (über sie) nicht ändern wollen. 😉
Aber warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht? (Danke, Frank)